90 Sekunden. Sind deine Emotionen nach 90 Sekunden weg)

Shownotes

Spaziergang 51: 90 Sekunden. Sind deine Emotionen nach 90 Sekunden weg?

Hallo und herzlich willkommen bei Walk & Talk mit Ida. Schön, dass du wieder dabei bist. Wir gehen heute wieder im Westerwald spazieren zusammen und heute geht es im Infoteil wieder um ein Thema rund um Stress. Wir haben ja schon öfter darüber gesprochen. Heute möchte ich über die 90-Sekunden-Regel sprechen.

Die ist von einer Wissenschaftlerin aufgestellt worden, einer Neurowissenschaftlerin. Die gute Frau heißt Jill Bolte-Taylor und ihre 90-Sekunden-Regel besagt, dass die ersten 90 Sekunden, wenn du einen Schreck bekommst – sagen wir mal, in irgendeiner anderen Folge hatten wir schon diese Schlange im Laub, die Schlange in den Büschen – du siehst diese Schlange und du erschrickst und etwa 90 Sekunden lang bist du so überflutet mit Neurobotenstoffen und ähnlichem, dass, sagt sie, diese Reaktion im Grunde mehr oder weniger automatisch abläuft.

Diese Flucht oder Kampf oder im krassesten Falle Freeze – würde man auf Deutsch vielleicht eher so als Todstellmechanismus übersetzen – dass das so krass abläuft, dass du da ihrer Meinung nach wenig Kontrolle darüber hast. Danach allerdings setzt die Interpretation ein. Das ist ihre Meinung. Und dann sind es nicht mehr diese chemisch ausgelösten Emotionen, sondern dann sind es vor allem Gefühle und Interpretationen von dem, was du da gesehen hast.

Diese Schlange ist ja jetzt nur eine Möglichkeit. Das kann ja auch der Brief vom Finanzamt sein oder die E-Mail vom Chef oder ein Kommentar, das ein Kollege gerade gemacht hat, oder die blöde Bemerkung im Meeting oder irgendwas anderes, was dich jetzt emotional triggert. Ob das mit Wut ist, ob das mit Angst ist, in welche Richtung auch immer, mit Trauer – das ist jetzt erst einmal nicht so ganz relevant, gerade bei Wut und Angst gehen ja auf jeden Fall ähnliche Mechanismen los.

Es ist nicht ganz so einfach, das zu beurteilen. Sie als Neurowissenschaftlerin hat sich das komplett aus der biochemischen Ecke angeschaut und da war das für sie relativ klar. Aus der Sicht der Psychosomatik – ich mache ja psychosomatische Physiotherapie – wenn man das mehr aus der Richtung anschaut, aus einer psychologischeren Richtung, dann kann man das gar nicht so eindeutig sagen. Je nachdem wie stark der Reiz ist und wie traumatisiert du vielleicht schon mit diesem Thema bist.

Wenn du schon ganz, ganz, ganz viele schlechte Erfahrungen mit deinem Chef hattest oder du gerade in einer allgemein sehr schwierigen Situation bist und das jetzt nochmal obendrauf kommt oder du vielleicht aus deiner Kindheit schon viele Erlebnisse rund um Personen hattest, an die dein Chef dich eben auch erinnert, dann kann es sein, dass diese Reaktion, die du dann zum Beispiel auf die E-Mail vom Chef hast, tatsächlich diese 90 Sekunden dich auch biochemisch komplett überflutet, kann man sagen.

Diese Hormone überfluten einen und auch die Emotion beherrscht einen dann. Wenn das Ganze aber etwas ist, was dich schon triggert aber nicht bis aufs Äußerste, dann kann man da häufig – haben die wissenschaftlichen Studien ergeben. Du weißt ja, du findest die Studienlinks immer unten bei mir in den Shownotes. Die Studien haben ergeben, dass man häufig auch schon wesentlich schneller und wesentlich früher, wenn man es schafft, die Kognition einzuschalten oder andersrum vom Körper aus schafft, diese emotionale körperliche Reaktion zu dämpfen, dann kann man wesentlich früher als die 90 Minuten schon eine etwas klarere Sicht drauf haben, würde ich mal sagen.

Zu merken, okay, da ist jetzt die E-Mail vom Chef und ja, das ist erstmal nicht angenehm, was da drin steht, oder beziehungsweise das, was da drin steht, macht etwas mit mir, was nicht angenehm ist. Das ist ja eher die korrekte Idee dann, aber ich kann dann auch hingehen und sagen, okay, aber es ist jetzt erstmal nur die E-Mail vom Chef und ich darf mich jetzt entspannen und ich darf da auch eine andere Interpretation dran geben als die reine Furcht oder die reine Wut.

Besonders interessant und wichtig ist das, wenn du dazu neigst ganz, ganz schnell zu antworten. Das kann man bei E-Mails dann ein bisschen einfacher hinten raus schieben. Aber stell dir mal vor, Thema Teamarbeit, du bist in einem Meeting und da sagt jemand etwas, was dich triggert. Was dann helfen kann, ist tatsächlich erstmal durchatmen.

Natürlich macht es am meisten Sinn, wenn du deine alten Erfahrungen, die dich dann vielleicht dazu bringen, dass es dich so stark triggert, anfängst zu verarbeiten. Natürlich. Aber kein Mensch ist perfekt. Jeder hat seine eigenen Erfahrungen und jeder Mensch wird durch Dinge getriggert. Das heißt, du sitzt in dem Meeting und du bist jetzt nun mal getriggert und dann kann es tatsächlich helfen, erst mal zu gucken, wo bin ich hier eigentlich. Okay, ich bin hier im Meeting. Okay, was mache ich hier eigentlich? Ich sitze hier in der Runde mit Kollegen und ja, ich spüre die Wut in mir oder ja, ich spüre die Angst in mir, aber ich darf versuchen – ich weiß, wie schwer das ist – ich darf versuchen, jetzt dem Ganzen eine Perspektive zu geben. Inwieweit es denn überhaupt Sinn macht, jetzt meine krasse Reaktion darauf loszulassen.

Wie gesagt, ich weiß, wie schwer das ist, aber mit der 90-Sekunden-Regel im Kopf, dass jetzt erstmal 90 Sekunden du potenziell sehr viele Stresshormone im Blut hast und auch wissend, dass es nochmal eine zweite Stressreaktion gibt, die dich so die nächste halbe Stunde etwa packen wird, kannst du vielleicht trotzdem diese 90 Sekunden vorbeigehen lassen? Vielleicht sagt ja jemand anders was, vielleicht redet der Kollege erstmal einfach weiter und du schaffst es, dich mal auf deinen Atem oder auf deine Füße zu konzentrieren. Wie gesagt, zu schauen, wo bin ich denn hier eigentlich?

Und das finde ich das Spannende an dieser 90-Sekunden-Regel. Sie ist nicht ganz korrekt. Biochemisch ganz gute Zusammenfassung, dass die Halbwertszeit dieser biologischen Hormone, die da in deinem Blut dann rumschwirren, nach 90 Sekunden ungefähr erreicht ist und du, dass diese biochemische Reaktion etwas abnimmt. Und wenn du weißt, okay, ich halte jetzt diese 90 Sekunden durch, das sind anderthalb Minuten, ich probiere entsprechend was durchzuatmen, ich probiere meine Füße zu denken – vielleicht ist das eine Inspiration für dich, um mal selber zu schauen, wie du mit solchen Situationen umgehst, in denen die Emotionen dich vielleicht erst mal etwas übermannen.

Und wie gesagt, der beste Weg ist, denke ich immer noch persönlich, ist langfristig durch welche Therapieform auch immer dir zuträglich ist, dir zuspricht, zu versuchen, die Auslöser – damit zu arbeiten, kann ich vielleicht am besten sagen. Aber in dem Moment, in dem Moment, in dem du da drin steckst, vielleicht hilft dir ja dieses Wissen über diese 90-Sekunden-Regel dieser Neurowissenschaftlerin, dass du etwas entspannter mit der Situation umgehen kannst und dann vielleicht auch nicht das Kommentar zurückgibst, was du vielleicht sonst tun würdest.

Wer weiß, wozu dich diese 90-Sekunden-Regel über diese biochemischen Abbauprodukte in deinem Blut inspirieren kann. Das war es vom Infoteil über diese 90-Sekunden-Regel.

Und ja, die Frage heute ist natürlich passend: Woran merkst du, dass du gerade total getriggert bist?

Ich merke das, indem ich so ein ganz komisches Gefühl in der Brust bekomme und dann entweder irgendwie bei Angst teilweise anfange zu hyperventilieren, ganz viel zu atmen. Oder wenn ich wütend werde, dann habe ich an einer ähnlichen Stelle ein Gefühl, körperlich erstmal, das ich wahrnehmen kann. Und dann will ich was unbedingt sagen, will ich reagieren, will ich mich verteidigen.

Und in beiden Fällen merke ich das ganz oft erstmal körperlich und daran kann ich es sehr gut erkennen. Und das hilft mir tatsächlich, wenn ich an der Stelle etwas spüre, dass ich dann erstmal innehalte und gucke, okay, wow, jetzt passiert gerade was. Und jetzt darf ich das erst mal so stehen lassen im besten Moment. Hey, mir passiert das oft genug und ich schaffe das oft genug nicht. Bitte, bitte interpretiere das jetzt nicht so, als ob ich das dauernd schaffen würde.

Aber mir hilft tatsächlich diese Erkenntnis sehr, dass die krasse emotionale biochemische Reaktion nach einer gewissen Anzahl Sekunden wieder sackt. Und wenn ich es irgendwie schaffe, diese Zeit sinnvoll zu überbrücken, mein Kopf danach wahrscheinlich spätestens dann besser funktioniert und ich anders darauf reagieren kann, als wenn ich das sofort tue.

Genau. Die Frage an dich: Wo merkst du das denn? Was ist so dein erstes Zeichen in deinem Körper oder in deinen Gedanken oder wo auch immer? Wo merkst du es, dass du gerade getriggert bist?

Ja, damit würde ich sagen, ich verabschiede mich von dir. Ich freue mich, wenn du morgen wieder mitkommst auf unseren Spaziergang und bis bald.

Literatur:

Gross, J. J. (2002). Emotion regulation: Affective, cognitive, and social consequences. Psychophysiology, 39(3), 281-290.

Gunnar, M. R., & Quevedo, K. (2007). The neurobiology of stress and early adversity: Developmental considerations. Dialogues in Clinical Neuroscience, 9(3), 360-367. 

Kober, H., Mende-Siedlecki, P., Kross, E., Weber, J., Mischel, W., Hart, C. L., & Ochsner, K. N. (2010). Prefrontal-striatal pathway underlies cognitive regulation of craving. Proceedings of the National Academy of Science of the United States of America107(33), 14811-14816. 

Kohn, N., Heasman, J., Wende, J., & Morawetz, C. (2014). Emotion regulation: A meta-analysis of fMRI cognitive reappraisal studies. Social Cognitive and Affective Neuroscience.

Morawetz, C., Bode, S., Baudewig, J., & Heed, T. (2017). Neural correlates of cognitive reappraisal in mood and anxiety disorders: A meta-analysis of fMRI studies. Biological Psychiatry.

Taylor, J. B. (2006). My Stroke of Insight: A Brain Scientist's Personal Journey. Viking. 

Taylor, J. B. (2021). Whole Brain Living: The Anatomy of Choice and the Four Characters That Drive Our Life. Hay House, Inc. 

Wikipedia. (n.d.). Adrenaline.

Disclaimer:

Dieser Podcast ist ein virtueller Spaziergang und dient ausschließlich der Information und Inspiration. Die Inhalte stellen keine Psychotherapie, kein Coaching und keine professionelle Beratung dar und ersetzen diese auch nicht.

Alle hier formulierten Aussagen sind wissenschaftlich recherchiert. Die entsprechenden Referenzen und Quellen findest du im Anhang der Show Notes zu dieser Folge.

Ich übernehme keine Verantwortung für die Richtigkeit der wissenschaftlichen Aussagen oder deren Anwendung. Die Inhalte dieses Podcasts sind nicht als Anleitung zu verstehen, etwas Bestimmtes zu tun, sondern dienen rein der Inspiration und Anregung zum Nachdenken.

Bei gesundheitlichen oder psychischen Problemen wende dich bitte an entsprechende Fachkräfte oder Beratungsstellen.

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