Kontrolle. Brauchen wir als Menschen Kontrolle?

Shownotes

Spaziergang 56: Kontrolle. Brauchen wir als Menschen Kontrolle?

Hallo und herzlich willkommen bei Walk & Talk mit Ida. Die Folge über Kontrolle und Herrschaft, die ich letztes Mal schon angekündigt habe, kommt jetzt trotzdem, obwohl es nicht Sonntag ist. Aber ich habe einfach so Lust auf diese Folge, dass sie jetzt einfach nachgeholt wird. Herzlich willkommen. Wie gesagt, ich freue mich, dass du wieder dabei bist.

Hallo, heute wieder aus meinem Arbeitszimmer. Mal gucken, Paulchen liegt hier neben mir, vielleicht hörst du ihn ja gleich noch. Warum gibt es diese Folge? Außer dass ich das Thema irrsinnig spannend finde, aber ein Mitspaziergänger hat mich letztens darauf angesprochen. Als es die Folge gab, warum Menschen in Meetings so viel reden und der erste Grund war, den ich dir vorgestellt habe, dass Menschen Angst haben vor Chaos und die Situation beherrschen wollen.

Und dann ging es in unserem Gespräch um Herrschaft und um Kontrolle und warum das eigentlich so absurd ist, und das hat mich zum Nachdenken gebracht und ich habe mir überlegt, okay, Ida, du guckst doch immer alles aus der Perspektive der Altsteinzeit an, dann guck dir doch auch das mal an.

Jetzt bin ich auf etwas gestoßen, was mich zwar nicht überrascht hat, aber in der Krassheit doch ein wenig. Und zwar gab es in der Altsteinzeit zwar nicht so etwas wie Herrschaft, denn die Menschen haben in kleinen Gruppen gelebt, hatten sehr viel Freiheit, sehr viel Autonomie. Und wir hatten auch die Möglichkeit, mal die Gruppe zu wechseln, und sowieso waren die Gruppen mobil.

In diesen 40.000 Jahren in Europa und mittlerweile 300.000 bis 400.000 Jahre, die man in Afrika nachgewiesen hat für den Homo sapiens, und natürlich mehr als eine Million Jahre für die Vorfahren des Homo sapiens, geht man von dieser Lebensweise aus. Schon wirklich seit sehr langer Zeit. Und jetzt habe ich gesagt, Herrschaft gab es nicht, aber es gab Kontrolle.

Und zwar gab es Kontrolle aus dem Grund, soziale, gesellschaftliche Kontrolle, um Herrschaft zu verhindern. Für uns heute, für die es normal ist, dass es einen Chef gibt, dass es einen Bundeskanzler gibt, dass es Menschen in Positionen gibt, die über dich und dein Schicksal entscheiden können, Lehrer gibt, die dir Noten geben können, die auch eine Form von Herrschaft direkt ausführen.

Für jemanden, der wie wir aufgewachsen ist, ist es vielleicht eine merkwürdige Idee, dass es in der Altsteinzeit gerade keine Herrschaft gab und dass sogar alle Arten von Kontrolle darauf abgezielt haben, Herrschaft zu verhindern. Das bedeutet, man hatte Gruppen von Menschen, die so klein waren, 25 bis 50 Individuen, dass jeder sich sehr gut kannte und dass jeder übrigens auch die Gruppen in deren Umfeld man gelebt hat, sehr gut kannte.

Das bedeutet, man hat in kompletter Gleichheit untereinander gelebt. Keiner war besser als der andere. Jeder hat zwingend immer alles geteilt innerhalb der Gruppe, und auch hat man vieles mit den Gruppen um einen herum geteilt. Dieses Miteinander-Teilen kommt übrigens immer noch an vielen Stellen in der Psychologie, vor allem im Marketing, zurück, wenn dir zum Beispiel geraten wird, dass du was verschenkst, kleine Sachen verschenkst, und die Leute dann in der Reziprozität, im Dir-Zurückgeben, dann wesentlich gewillter sind, mit dir ins Gespräch oder ins Geschäft zu kommen.

Das ist eigentlich unsere urmenschliche Ader, unsere urmenschliche Art und Weise, Dinge zu tun. Und genau diese Reziprozität, das war einer der Schlüssel in der Altsteinzeit. Das heißt, da hat unglaublich viel drauf aufgebaut. Wenn ich Leute in der Altsteinzeit getroffen hätte und ich hätte was gefunden, ich hätte was gesammelt, ich hätte eine besondere Erfahrung, eine besondere Gabe – ja, Paulchen versucht jetzt hier mit auf die Couch zu klettern, mal gucken, was das noch wird.

Auf jeden Fall, wenn ich eine besondere Gabe hätte oder eine besondere Möglichkeit, an Essen zu kommen, dann war es selbstverständlich, dass ich teile. Das war überhaupt keine Diskussionsmöglichkeit. Sogar genau andersrum. Man weiß das aus ethnologischen Studien, jetzt auch aus unserer modernen Zeit von Jägersammlergruppen. Wenn gute Jäger gejagt haben, erlegt haben, dann mussten sie immer ganz doll aufpassen, dass sie nicht in die Falle geraten sind, nicht genug zu teilen, nicht unterwürfig genug zu sein zu der Gruppe.

Genau andersrum, als wir das heute aus unserer Gesellschaft kennen, wo der, der besonders viel verdient, der besonders viel Macht hat und so weiter, der besonders erfolgreich ist, nicht nur dass er seinen Erfolg behalten darf, sondern häufig auch noch dafür gelobt wird oder zumindest Ansehen erhält, beneidet wird.

Und so war es genau anders in der Altsteinzeit. Dafür wurde man nicht nur schief angeguckt, dafür wurde man sogar verurteilt, dafür wurde man sogar aus der Gruppe geschmissen. Das heißt, und wie gesagt, das ist gerade ein Thema für gute Jäger, denn wenn du ein guter Jäger bist und wirklich viel erlegst oder ein großes Tier erlegst, dann ist es zwingend erforderlich, dass du dich a. in der Gruppe einreihst und b. das komplett teilst mit der Gruppe. Genau wie alle anderen ihre Fähigkeiten, ihre Möglichkeiten, ihr Gesammeltes oder Gejagtes teilen.

Das heißt, da herrscht eine sehr große Kontrolle, eine gesellschaftliche Gruppenkontrolle unter den Menschen untereinander. Und das erinnert mich immer total an die französische Idee der Egalité, Fraternité und Liberté. Vielleicht kennst du das, vielleicht sagt dir das was. Ich bin viel in Frankreich, und wir wissen alle, dass es schiefgegangen ist in Frankreich. Es ist eine sehr schöne Idee, aber wenn man es nicht ganz und massiv durchsetzt, wie eben in der Altsteinzeit, wo keiner den Kopf aus dem Maisfeld strecken durfte. Das ist ein holländischer Spruch. Der wird sofort abgehackt, wer den Kopf aus dem Maisfeld streckt. Und wenn man das nicht ganz, ganz radikal durchsetzt, eine wirklich straffe Kontrolle hat an der Stelle, dann funktioniert diese altsteinzeitliche Gesellschaft nicht.

Das ist aber, worin wir aufgewachsen sind als Menschen. Eigentlich sind wir mobile Gruppen, die sehr viel Autonomie haben. Jeder Mensch hat viel Autonomie, solange er sich an diese eine Regel hält, nämlich dass alle gleich sind und alle miteinander teilen. Reziprozität nennt sich das Schöne dieses: Ich gebe dir was, du gibst mir was zurück.

So, und dann ist etwas, ein ganz krasser Umschwung passiert. Dann gab es plötzlich eine sogenannte Neolithische Revolution, die Menschen haben angefangen, Ackerbau zu betreiben. Und plötzlich hat sich eine Sesshaftigkeit eingesetzt, hat sich Ernte eingesetzt, hat sich irgendwann sowas wie Besitz eingesetzt. Es haben sich langsam, das ging auch gar nicht schnell, es haben sich langsam hierarchische Strukturen entwickelt.

Aus einer Zeit heraus, in der es überhaupt keine Hierarchie gab, in der es keine Hierarchie geben durfte, haben sich hierarchische Strukturen entwickelt. Und alle Versuche später, egal ob das eben dieser französische Versuch war in der französischen Revolution, in der man schön Egalité, Fraternité, Liberté gesagt hat, oder ob es Räte waren, ob es jetzt in der Schweiz war, ob es in Zeiten von hier, zum Beispiel Marx, ob es dann in irgendeinem der kommunistischen Länder war, überall da, wo man versucht hat, Gleichheit darzustellen, durchzusetzen, sind diese Experimente gescheitert.

Es gibt auch Ideen aus der Philosophie, der republikanischen Philosophie, die auf diese Idee zurückgreifen, dass es keine Herrschaft geben darf. Und doch erleben wir in unserer Welt, Zeit, dass all diese Versuche am Ende doch scheitern und der eine mehr Macht hat als der andere, der eine mehr Geld hat als der andere, und wir sowas wie Ämter, wie Rollen erleben, und es eben Macht und Kontrolle gibt, nicht nur Kontrolle im Sinne von für die Gemeinschaft, mit Sicherheit das eine oder andere auch, aber auch Kontrolle einer Person über mehrere. Ein eindeutig hierarchisches Vorgehen.

Und das ist, was sich da anscheinend in den Menschen auch festgesetzt hat. Wenn wir wieder zurückgehen zu der Episode, warum redet derjenige in dem Meeting so viel? Diese Idee, dass einer Herrschaft über andere haben kann, etwas, was einem in der Altsteinzeit überhaupt nicht eingefallen wäre. Das hat sich anscheinend auch psychologisch in uns durchgesetzt, weil man es ja dann versucht. Wenn der in dem Meeting die ganze Zeit quatscht und nichts anderes tut als zu reden, dann scheint er ja zu denken, dass er damit Kontrolle und Macht über die anderen haben kann, wenn er bestimmt, was die anderen tun.

Für uns Menschen eigentlich etwas Komisches, wie du hoffentlich gehört hast, trotz vieler, vieler, vieler Versuche später mehr Richtung Gleichheit zu kommen. Aber ich möchte dir auch von einem Gutversuch erzählen, einem, der geklappt hat bis jetzt, und der kam nicht aus der Politik und kam nicht aus der Philosophie, sondern von einem niederländischen Unternehmer.

Dieses Unternehmen heißt Buurtzorg, und in dem Buch „Im Grunde gut", von dem ich dir auch schon öfter mal erzählt habe, da wird darüber berichtet, und ich finde das ganz faszinierend und habe mir das mal angeschaut. Und das ist ein Pflegeunternehmen, die häusliche Pflege bieten die an, und die haben sich eigentlich aufgebaut wie tatsächlich in der Altsteinzeit.

Die Leute im Büro, das ganz kleine Büro, organisiert nur ein paar übergeordnete Sachen, leistet sozusagen Hilfestellung für die Teams. Ansonsten gibt es nur Teams von etwa 25 Mitgliedern, die sowas wie Herrschaft oder Chefs nicht haben, die alles miteinander entscheiden, die Rollen vergeben, aber nicht im Sinne von Herrschaft, sondern nur im Sinne von organisatorisch. Die sich unterstützen.

In der Altsteinzeit hat auch der eine was besser Steinmesser herstellen können als der andere und so weiter. Da gab es auch sowas wie Rollen mit Sicherheit. Es gibt in diesen Teams Rollen, aber keine Herrschaften. Und die sind unglaublich erfolgreich. In Untersuchungen hat man festgestellt, dass die Leute, die dort arbeiten, sich wesentlich wohler fühlen. Die brauchen nicht mal sowas wie Marketing zu machen, weil die Leute sind so begeistert, die dort arbeiten, die erzählen einfach weiter, was sie tun.

Und die Arbeit, die sie leisten, die unkonventionell ist, weil sie einfach das machen, was die Leute brauchen in dieser Arbeit, in der Pflege, in der häuslichen Pflege. Dass sie nicht irgendein Schema abarbeiten, was irgendeine Krankenversicherung ihnen auferlegt hat oder der Staat ihnen auferlegt hat, sondern sie machen das, was die Leute da zu Hause, die gepflegt werden, wirklich brauchen. Und das spricht sich halt rum in Windeseile, dass die echt gute Arbeit leisten.

Und das ist die ganze Philosophie von dem Gründer. Er gibt die ganze Macht ab, er gibt sie an die Teams. Sowas wie Herrschaft in dem Sinne gibt es nicht, sondern die Teams sind komplett eigenständig, die machen ihre eigenen Aufträge, die arbeiten ihre eigenen Aufträge ab, die sorgen dafür, dass das alles organisiert ist, und das finde ich total schön. In dem Moment, in dem man das wirklich von ganzem Herzen lebt, geht auch eine Organisation, ein Arbeiten, ein Leben ohne Herrschaft. Man muss es nur wirklich wollen.

Und natürlich bleibt ein Stück weit Kontrolle untereinander, die Reziprozität, dieses ich gebe dir, du gibst mir. Wir verteilen untereinander, muss schon eingehalten werden, sonst gibt es ja einen, der mehr hat. Wir Menschen haben da anscheinend schon als sehr soziale Wesen schon immer sehr gute Mechanismen, Kontrollmechanismen entwickelt, um eben Herrschaft zu verhindern.

So viel zu einer kleinen Philosophie slash Geschichtsidee zum Thema Kontrolle und Herrschaft. Ich muss ganz ehrlich sagen, ich würde mir nichts sehnlicher wünschen, wenn wir alle nur noch so arbeiten, wie das auch Buurtzorg macht, und wir alle wirklich von ganzem Herzen uns unterstützen und nicht mehr von hunderttausend Regeln geknechtet sind, die wir uns einhalten müssen, sondern einfach grundsätzlich miteinander teilen und füreinander da sind und unterstützen, und das, was zählt, ist, dass es allen gut geht, allen einzelnen Individuen, allen Menschen in der Gruppe, aber auch den Gruppen um uns herum.

Dass es nicht darum geht, immer mehr anzuhäufen, immer mehr zu besitzen, immer mehr Macht, immer mehr Geld, immer mehr Dinge, sondern wirklich darum, von der Idee von Buurtzorg, dass man gemeinsam in kleinen Gruppen was ganz Tolles erschaffen kann.

Ich habe jetzt auch gerade gar keine Frage an dich, diese philosophischeren Podcasts sind häufig fragefrei, aber beim nächsten Mal gibt es wieder eine Frage. Dann hoffe ich, dass du wieder mit dabei bist. Ich freue mich auf dich. Ich gehe unglaublich gerne mit dir spazieren, vielleicht merkst du es, und ich freue mich total auf dein Feedback. Und du siehst, wenn man mich auf Themen anspricht, dann arbeite ich mich auch daran ab oder dann lasse ich mich auch eben genauso von dir inspirieren und freue mich darauf.

Mach's gut. Bis nächstes Mal.

Literatur:

Bregman, R. (2021). Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit. Rowohlt.

Van Schaik, C., & Michel, K. (2023). Mensch sein: Von der Evolution für die Zukunft lernen. Rowohlt.

Schwartz, R. C., & IFS-Europe e. V. (2024). Das System der Inneren Familie: Einführung in die IFS-Therapie – Ein Weg zu mehr Selbstführung (Erw. Neuausg.). München: Kösel-Verlag.

Disclaimer:

Dieser Podcast ist ein virtueller Spaziergang und dient ausschließlich der Information und Inspiration. Die Inhalte stellen keine Psychotherapie, kein Coaching und keine professionelle Beratung dar und ersetzen diese auch nicht. Alle hier formulierten Aussagen sind wissenschaftlich recherchiert. Die entsprechenden Referenzen und Quellen findest du im Anhang der Show Notes zu dieser Folge. Ich übernehme keine Verantwortung für die Richtigkeit der wissenschaftlichen Aussagen oder deren Anwendung. Die Inhalte dieses Podcasts sind nicht als Anleitung zu verstehen, etwas Bestimmtes zu tun, sondern dienen rein der Inspiration und Anregung zum Nachdenken. Bei gesundheitlichen oder psychischen Problemen wende dich bitte an entsprechende Fachkräfte oder Beratungsstellen.

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